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Erobern und weggehen, lernen und verlernen

Als ich ein bisschen verdrießlich dreinschaute, weil ich packen musste und mich langsam von der Stadt verabschieden, sagte mir ein Freund in Antwerpen, dass er an meiner Stelle glücklich und stolz zurück nach Hause gehen würde, mit einem Koffer und Herzen voller Erfahrungen und Erlebnissen und Wissen und einer eroberten Stadt weit, weit weg von daheim. Danach ging's mir wirklich besser, ich konnte mich glücklich, nicht nur trübsinnig, von dem Ort lösen, der mein geworden war, und mich auf den Ort freuen, der schon lange mein war und an den es jetzt zurück ging. 

Neben einer neuen Sprache hab ich also auch noch andere Dinge gelernt, während des letzten halben Jahres. Ein paar davon sind mir besonders aufgefallen, und die will ich kurz beschreiben. Man sagt ja oft, dass man im Hinterher oft erst merkt, was sich alles in einem selbst getan hat, also ich bin gespannt, was noch alles kommt ^^ 

 

1.       Meine Fähigkeit zu träumen wurde aufgefrischt. Einmal nach Amerika auswandern? Irgendwo leben, raus aus der eigenen Kiste? Ein eigenes Café führen? Etwas studieren und danach etwas völlig anderes tun? Ein Buch schreiben? Warum nicht? Ich habe Leute kennengelernt, die groß denken, mit einem großen Herzen, großen Ideen, großen Hoffnungen, großen Zweifeln und noch größerem Vertrauen und viel Zuversicht. Nur die Erwartungen waren nicht groß. Solange man einen Traum erfüllen kann, warum nicht in Kleinformat?

2.       Ich habe Nachhilfe im Ich-selber-sein erhalten. Seit dem Teenager-Alter arbeiten die meisten von uns daran, uns weniger darum zu kümmern, was andere von uns denken. Und wenn wir mal „weg“ sind, scheint es so viel einfacher zu sein, unser eigenes Ding zu machen: Da, wo wir niemanden kennen und niemand uns kennt, können wir neu anfangen, hat noch niemand ein Bild von uns; da, wo uns die Leute nach zwei Monaten nie wieder sehen werden und wir in Vergessenheit geraten (bei jenen, die nicht von Bedeutung sind). Aber für mich war es doch nicht immer gar so einfach. Ich wollte mich trotzdem nicht blamieren, wollte trotzdem ein gutes Bild geben, wollte beliebt sein… Ich habe es täglich versucht, habe mir Zettel an die Wände geklebt, Post-its an den Kleiderschrank und so weiter. Ich habe es versucht, und jeder kleine Versuch war ein Schritt in die richtige Richtung. Den Misserfolg maß ich daran, wie ich mich, auch wenn ich allein war, nicht nur mit anderen, in meinen eigenen vier Wänden unwohl fühlte und mir viel Arbeit und innere Unruhe antat, und zum Beispiel für einen Kurs, für den wir einen Zeitungsartikel wählen und diskutieren mussten, mit unangenehmen Bauchziehen den nicht allzu kontroversesten, wenn auch besten, Trump-Artikel wählte.

Sich selber sein kann für manche ein weiter Weg sein. Für mich auf jeden Fall. Auf dem Weg liegen Fallen und aus manchen scheint es unmöglich, wieder rauszukommen- vor allem, wenn Menschen involviert sind. Das wird oft nicht so lustig sein. Aber nicht aufhören, daran zu arbeiten!

3.       Ich wollte ein Outsider sein. Das hängt mit 2. zusammen. Manchmal hab ich mich dreckig gefühlt, wie ein Körper, in den sich eine andere Person eingeschlichen hatte. Wenn ich eben nicht ganz ich selber war. Dann hatte ich Momente, in denen ich aufrichtig anders, auffällig, komisch, besonders, außenstehend und bei vielen unbeliebt war. Wie schön muss es sein, vollkommen frei zu leben, vollkommen unbekümmert, solange man nur das Richtige tut und spricht.

4.       Es ist in Ordnung, mit hübschen Tauben auf dem Gehsteig zu sprechen und vom Fahrrad aus den Himmel anzulächeln und Kinder laut zu grüßen, selbst in einem Land wie Belgien, wo man normalerweise achtlos an allen vorbeizieht. Auch das gehört zu den vorigen Punkten. Wen juckt es, was für schöne und liebe Dinge wir tun? Manche Menschen scheinen am Freundlich-sein etwas auszusetzen zu haben, und diesen Menschen muss mit einer Doppeldosis lächeln begegnet werden.

Auf Englisch kann man das so schön sagen: Be who you are, for those who care don’t matter, and those who matter don’t care ;)

 

 

Weißt du was? Ich hab auch Dinge ein bisschen verlernt. Leider. Ich bin aus der Übung, besser gesagt. Die ersten zwei Tage wieder bei der Familie waren nicht absolut immer nur heel gezellig, sondern manchmal, wenn auch nur augenblicksweise... ein bisschen schwer: In Momenten, in denen es galt, geduldig zu sein- Himmel! Das letzte halbe Jahr war ich mehr oder weniger allein, musste auf niemanden Rücksicht nehmen, musste mich kaum für Leute zusammenreißen und schon gar nicht mit jemandem stundenlang im gleichen Auto sitzen. Ja, also das wartet zu Hause wieder auf mich. Geduld lernen. Aber ehrlich- was für ein Segen doch, eine anstrengende Familie zu haben! Bestes Training für eine eigene anstrengende Familie eines Tages.